Autismus und Augenkontakt

In meinem letzten Beitrag ging es darum, wie Emotionen Anderer bei Autisten zu einer Reizüberflutung führen und diese dadurch nicht zu Empathie fähig wirken.

Als ein artverwandtes Thema hierzu kann auch der Blickkontakt gezählt werden. Warum ist dieser für uns Autisten so schwierig? Dieser Frage wollen wir nun gemeinsam auf den Grund gehen.

Meiner früheren Therapeutin hatte ich es folgendermaßen beschrieben (damals noch unwissend ob der tatsächlichen Ursache "Blickkontakt"):

"Bei langen oder intensiven Gesprächen fühle ich mich immer mehr als würde ich mich hinter einem Schleier befinden, der immer dichter wird, je länger das Gespräch andauert."

Der Vollständigkeit halber muss ich jedoch anmerken, dass damals das Thema Autismus bei mir noch in weiter Ferne verborgen lag und somit natürlich niemand auf den tatsächlichen Kern meiner Beschreibung stoßen konnte.

Und aus eben genau diesem Grund lautete die Antwort meiner Therapeutin auch sinngemäß:

"Auf mich wirken Sie aber sehr präsent Herr Schneider. Bei unseren Gesprächen habe ich nicht das Gefühl, dass Sie hinter einem Schleier verborgen oder abwesend wären."

"Treten Sie doch einfach von diesem Schleier hervor."

Nur was dieser Schleier nun bedeutete oder wie ich doch "so einfach" von diesem hervortreten sollte, nun ja - dies konnte mir niemand erklären.

Auf die Bedeutung bin ich erst Jahre später im Zuge meiner Autismusrecherchen gestoßen. Im Gespräch mit einer Dame des Netzwerks Autismus Oberpfalz - ich erzählte ihr gerade dieselbe Geschichte mit dem Schleier wie euch gerade eben - ist schlussendlich ebendieser sinnbildlich gefallen.

Mir wurde plötzlich bewusst, dass die Ursache nur im Blickkontakt begründet sein konnte. Unter dem Aspekt der Reizüberflutung betrachtet, wird dieser Sachverhalt auch sehr schnell deutlich. Denn was ist Blickkontakt anderes, als die Übermittlung von Informationen?

Nicht umsonst nennt man die Augen den Spiegel der Seele - was wäre also, wenn wir Autisten tiefer in andere Menschen hineinblicken könnten, als neurotypische Menschen? Dann wäre es doch nur logisch, dass wir von dieser Informationsflut übermannt werden.

Was passiert beim Augenkontakt?

In erster Linie werden beim Blickkontakt Emotionen vermittelt - welche wir, wie im letzten Beitrag erörtert, nur sehr schwer von unseren Eigenen abschotten können.

Des Weiteren ist gerade der Blickkontakt ein fundamentaler Bestandteil non-verbaler Kommunikation. Er trägt somit wesentlich dazu bei, Rahmenbedingungen sozialer Interaktion unausgesprochen zu definieren. Also etwas, das für uns starke Schwierigkeiten und viele Stolpersteine mit sich bringt.

Auch die Mimik stellt einen weiteren Faktor dar, der beim Augenkontakt zu beachten ist und der auf bewusster Ebene ausgewertet werden muss.

All dies führt bei uns zu einer starken Reizüberflutung, da unsere kognitiven Fähigkeiten zum Einen durch die starke emotionale Belastung bereits enorm beansprucht werden und zum Anderen versucht unser Gehirn die non-verbalen Signale der sozialen Interaktion auszuwerten und mit bereits gemachten Erfahrungen abzugleichen.

Hinzu kommt dann noch oftmals unser erhöhter Erwartungsdruck, den Anforderungen der sozialen Interaktion gerecht zu werden - das altbekannte Problem: man möchte nicht "anders" sein.

Man kann also deutlich erkennen, welcher Kraftaufwand nötig ist, um die sowieso schon anstrengende soziale Interaktion um den gesellschaftlich obligatorischen Augenkontakt zu erweitern.

Bei vielen Autisten wirkt dieser anerzogene Blickkontakt aufgesetzt und unnatürlich. Ein Starren durch das Gegenüber hindurch. Es mag vielleicht höflicher wirken, aber unter dem Strich wird der Autist in seiner sozialen Kompetenz dadurch eher eingeschränkt als bestärkt.

Dies mag widersprüchlich erscheinen, aber durch den enormen unnützen Kraftaufwand für das Aufnehmen des Blickkontakts wird kostbare Energie für die soziale Interaktion vergeudet. Welche dann meistens nur bedingt geführt werden kann.

Auch vom aktuell bevorzugten Lösungsansatz, den Blick auf die Nasenwurzel oder die Stirn zu richten, halte ich recht wenig. Erstens ist es nur wieder ein weiterer Ansatz, unsere Andersartigkeit zu "korrigieren". Was unser Anderssein wiederum faktisch negativ konnotiert.

Zum Anderen trägt diese Methode auch nur bedingt zu einer Verbesserung der sozialen Leistungsfähigkeit bei. Letztendlich hat nur unser neurotypisches Gegenüber einen Vorteil davon, einfach deshalb, weil er es als höflicher erachten kann. Für uns bleibt die Informationsflut aus Mimik und Blickkontakt trotzdem erhalten, da wir diese aus dem peripheren Blickwinkel immer noch wahrnehmen können.

Daher sähe ich es als sinnvoller an, Autisten ihre ganz persönlichen Eigenheiten zu lassen und den Blickkontakt nicht als Maß der Dinge zu sehen oder schlimmer noch, zur Grundvoraussetzung der Kommunikation zu erklären. Dinge wie Respekt und Toleranz wären hierfür deutlich besser geeignet.

Ich persönlich bin in meinem Blickverhalten in keinster Weise auffällig. Beziehungsweise war dies bis zu meinem oben genannen "Aha-Erlebnis" so. Seitdem gestehe ich es mir zu, diesen nur noch dann einzusetzen, wenn es für mich in Ordnung ist. Und gerade bei intensiveren Gesprächen kann ich eine deutliche Verbesserung feststellen, wenn ich auf diesen verzichte. Ich bin um ein vielfaches fokussierter auf das Thema und kann auch äußere Einflüsse deutlich besser abschotten - einfach deshalb, weil nun mehr kognitive Kapazitäten frei sind.

Dabei versuche ich mein Gegenüber nicht komplett aus den Augen zu verlieren. Ich baue den Blickkontakt immer wieder für kurze Zeit auf und richte meinen Blick dann wieder auf einen, für mich geeigneten Punkt. So kann ich immer wieder den aktuellen Stand meines Gegenübers abfragen und dennoch die Anstrengung der Interaktion verringern.

Aber bedenkt wie immer Eines: nur weil mir diese Möglichkeit gegeben wurde, heißt dies nicht, dass dies für alle Autisten gilt. Jeder hat sein individuelles Leistungsvolumen und innerhalb dessen wird er instinktiv das herausholen, was für ihn möglich ist.

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