Wir schreiben das Jahr 2015. Bislang verlief mein Leben "eigentlich" ganz normal.
Eigentlich in dem Sinne, dass ich zwar nicht anders, als alle anderen war, aber doch anders genug, um nicht wirklich dazuzugehören. Mir fehlte es immer an Anschluss und wenn ich diesen doch einmal gefunden hatte, dann konnte ich diesen nicht lange aufrechterhalten.
Eigentlich auch in dem Sinne, dass ich mein Leben auch alleine ganz gut führen konnte und selbst in meinem Arbeitsleben gute Leistungen erbrachte. Dass ich dafür zwar regelmäßig "wegkippte" und dementsprechend auch den Draht zu meinem Umfeld verlor und diesen jedes Mal mühsam wieder aufbauen musste. Aber auch dafür gab es irgendwann einen Namen: "rezidivierende depressive Episoden". Ein schrecklich anmutendes Wortkonstrukt.
Ich war also depressiv. Das habe ich zuerst auch so geglaubt. Zum Einen hat dies ja ein Arzt festgestellt und zum Anderen würde es doch so einiges erklären. Einiges - doch bei Weitem nicht alles. Es mag tatsächlich so sein, dass ein Shutdown nach einem heftigen Overload wie eine Depression anmutet. Aber eine Solche ist in diesem Fall eben nicht die Ursache, sondern nur die augenscheinliche Auswirkung.
Nachdem ich mich eingehender mit der Situation befasst hatte und ich auch über Monate hinweg an einer mehr oder weniger sinnlosen Verhaltenstherapie teilgenommen hatte, konnte ich mich immer weniger mit der scheinbaren Tatsache anfreunden, depressiv zu sein. Dafür beschäftigte ich mich zu sehr mit positiven philosophischen Themen über das Leben an sich. Und auch meine Grundeinstellung steht in einem zu krassen Gegensatz zu einer Depression. Denn ich bin davon überzeugt, dass alles so geschieht, wie es geschehen soll und es sich zum Schluss doch immer zum Positiven entwickelt. Selbst wenn es anfangs aussichtslos erscheint.
Warum sinnlose Therapie? Diesem Thema werde ich vielleicht noch einen eigenen Beitrag widmen, aber so viel sei schon einmal gesagt. Ich möchte keinesfalls die qualitative Durchführung der Therapie anzweifeln. Ganz im Gegenteil - ich war mit meiner Therapeutin auf einer Wellenlänge. Es wurde lediglich versucht, etwas zu therapieren, wo es nichts zu therapieren gab. Daher waren meine Therapiesitzungen mehr oder weniger Gespräche unter Therapeuten-Kollegen über einen Klienten.
Ich war also nach wie vor ein depressiver Mensch. Ein durchaus lebensfroher und positiv eingestellter depressiver Mensch zwar, aber eine andere Erklärung gab es zu diesem Zeitpunkt nun einmal nicht.
So weit zu meinem bisherigen Leben. Wie man sehr gut feststellen kann, verlief mein "eigentlich" normales Leben doch nicht ganz so normal, wie man das vielleicht erwartet hätte. Es wirkte bei mir nur so "normal", da ich schon von klein auf gelernt hatte, meine Defizite nach außen hin zu kompensieren. Was allerdings enorm viel Kraft erfordert und sich daher in vielen kleinen Burn-Outs über die Jahre hinweg entlud.
Das letztendliche "Warum" wurde mir dann im Frühjahr 2015 bewusst, als ich mehr oder weniger zufällig (sofern es so etwas wie Zufälle überhaupt gibt) über das Thema "Autismus" gestolpert bin und mich auch sofort darin wiedererkannt hatte. Als ich mich daraufhin intensiv und mit gar "autistischer Präzision" mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte, wurde mir sofort bewusst, dass ich hier auf der richtigen Fährte sein musste. Die Erklärung meines bisherigen Lebens war zum Greifen nah!
Im Herbst des gleichen Jahres war es nun endlich so weit. Nach drei anstrengenden Terminen stand die Diagnose fest: ich war weder depressiv, noch hatte ich eine dissoziative Persönlichkeitsstörung. Ich war lediglich Autist.
Da ich dies für mich selbst schon zuvor herausgefunden hatte, war die Diagnose für mich kein Schock. Vielmehr war sie eine Absolution für mein gesamtes bisheriges Leben. Außerdem stand für mich fest: "es ändert sich durch diese Diagnose ja nichts. Mein Leben geht so weiter, wie bisher - mein Anderssein hat nun eben einen Namen".
Grundsätzlich hatte ich mit dieser Annahme auch recht, andererseits hätte ich damit kaum weiter fehlen können. Natürlich ändert sich nichts an den Begebenheiten - ich war mein ganzes Leben schon Autist und werde es auch mein restliches Leben sein. Ich hatte die Rechnung nur ohne meiner Kompensationsfähigkeit gemacht. Und ebendiese spielte nun plötzlich nicht mehr bei allem mit.
Im Nachhinein betrachtet ist das auch ganz logisch: ich habe mein Leben lang weit über meinem Limit funktioniert. Das hat sich auch in den regelmäßigen "depressiven Episoden" gezeigt. Ich habe mich unbewusst zu einer Funktionalität gezwungen, die ich auf Dauer nie halten konnte. Und genauso unbewusst hat mein Geist diese - nennen wir es - Übertaktung nach meiner Diagnose schrittweise heruntergefahren.
Ich wurde also nach meiner Diagnose nach und nach autistischer, als ich es mein bisheriges Leben lang war. Aber nicht, weil es nur eingebildete Defizite sind, sondern weil ich es seitdem zulasse, Autist zu sein. Der Autist in mir hat nun endlich den Platz in meinem Leben erhalten, der ihm zusteht und den er auch dringend benötigt.
Ich akzeptiere nun die Phasen in denen ich "nicht kann" - in denen mir alles zu viel wird und gestehe mir immer öfter zu, "nein" zu sagen, bei Dingen, die zu viel unnötige Kraft kosten. Ich lasse sogar meine "depressiven" Phasen aktiv zu, da ich darauf vertraue, dass diese nur vorübergehend sind und danach tatsächlich alles wieder gut ist - auch, wenn es während dieser Phasen nicht danach scheint.
Auch sonst achte ich nun viel stärker auf die Bedürfnisse, die ich als Autist habe - und das möglichst bevor es bereits zu spät ist. Sei es beim Kontakt (oder Nicht-Kontakt) mit Menschen, beim Erledigen von Aufgaben und der zeitlichen Planung von diesen. Was mir dabei ebenfalls sehr hilft, ist mein offener Umgang mit meinem Autismus. Wir Menschen tun uns einfach schwer, Dinge zu akzeptieren, die nicht erklärbar und somit nachvollziehbar sind. Und eben diese Erklärung kann ich meinen Mitmenschen nun geben.
Dies alles zu akzeptieren ist selbstverständlich ein Lernprozess. Schließlich hatte ich 27 Jahre meines Lebens über meinen Energieverhältnissen gelebt. Das lässt sich nicht einfach von heute auf morgen ändern. Auch ist es erst einmal so, dass das Pendel der Kompensation in die andere Richtung ausschlägt und man viel weniger zulässt, als man es die Jahre zuvor gemacht hatte. Einfach deshalb, um auszuloten, wie viel denn nun tatsächlich gut für einen selbst ist. Gerade hierfür braucht man sehr viel Geduld und Verständnis sich selbst gegenüber - aber auch das wird durch die Diagnose deutlich einfacher.
Vielleicht ist es also weniger ein "autistischer nach der Diagnose sein", als vielmehr ein "mehr ich selbst sein".