Ein greller Blitz durchbricht den hellichten Tag, ein ohrenbetäubendes Grollen versetzt die Luft in spürbare Wallung. Du stehst still - einer versteinerten Götzenfigur gleich siehst du hilflos zu, wie die Lawine in Zeitlupe und dennoch in atemberaubender Geschwindigkeit auf dich zurollt.
Langsam spürst du die Panik in deiner Brust emporsteigen. Dein Herz rast. Du siehst die Lawine, wie sie kurz davor ist, dich für immer unter Ihrer Last zu begraben. Mit deiner letzten Kraft rettest du dich in letzter Sekunde mit einem beherzten Sprung zur Seite. Geschafft. Die Lawine streift nur deine Glieder, ihren geifernden Fängen bist du aber entkommen.
Vorerst zumindest, denn der Weg nach oben ist steinig und voller Gefahr. Kaum hat man sich aufgerafft und ist zwei oder drei Schritte weiter dem Gipfel zu gestiegen, kann schon die nächste Lawine den brüchigen Abhang hinunterrauschen - für dich vielleicht zum letzten Mal...
Eine Abenteuergeschichte
Es klingt wie die abenteuerliche Geschichte der erstmaligen Besteigung eines unbekannten Berges. Und ähnlich einer solchen Unternehmung sind auch wir ständiger Belastung ausgesetzt.
Deren geröllbehafteter Aufstieg ist gleich unserer ständigen Kompensation, der auf uns einprasselnden Reize. Und genau wie deren Weg mit unbekannten Gefahren gepflastert ist, so wissen auch wir nicht, welche schwierige Situation wir nach der nächsten Biegung zu meistern haben.
Unser Leben besteht aus einer fortwährenden Reise durch unbekanntes Terrain. Manche neuen Lande erinnern uns zwar an bereits beschrittene Pfade, doch die unstete Welt und deren ständiger Wandel in ihren Myriaden an Facetten, macht es uns schwer einen steten Ort - einen sicheren Hafen - zu finden.
So durchschreiten wir die Welt, wie die Elben einst die Wälder Mittelerdes durchwanderten - aussichtslos in Ihrem Bestreben, Teil der für Sie flüchtigen Welt der Menschen zu werden.
Die Ursachen
Ein Overload ist die Konsequenz der ständigen Reizüberflutung unseres Gehirns. Diese Fülle an Informationen hat verschiedene Quellen, denn unser Gehirn nimmt - anders als das von Nicht-Autisten - eine Vielzahl an Informationen bewusst wahr.
So werden bei Nicht-Autisten alle äußeren Eindrücke, die im Moment nicht essentiell für diese Person sind, von deren Gehirn unbewusst verarbeitet und somit nicht oder nur am Rande bewusst wahrgenommen. Bei einem Autisten hingegen werden deutlich mehr Informationen bewusst wahrgenommen. Und nicht nur das! Die wahrgenommenen Informationen können durch ihre schiere Fülle vom Gehirn nicht mehr priorisiert werden.
Es werden also alle Informationen mit der gleichen Intensität wahrgenommen - sei es ein leises Rauschen oder ein ohrenbetäubender Lärm. So ist es kaum verwunderlich, dass uns selbst leiseste Geräusche aus unserer Konzentration reißen können oder uns das für andere kaum wahrnehmbare Flackern einer Glühbirne völlig aus der Fassung bringt.
In Zahlen bedeutet diese abweichende bewusste Wahrnehmung folgendes: ein normaler, nicht autistischer Mensch hat eine bewusste Wahrnehmung von ca. 5 - 11 %. Bei einem autistischen Menschen liegt die bewusste Wahrnehmung mehr als doppelt so hoch - nämlich bei ca. 30 %! Dies ist besonders dramatisch, wenn man bedenkt, dass ein normaler Mensch bereits einen kognitiven Zusammenbruch erleiden würde, wenn deren bewusste Wahrnehmung einen Anteil von etwa 20 % erreichen würde.
Das heißt unser Gehirn arbeitet ständig weit über dem Limit, welches ein neurotypisches Gehirn überhaupt verkraften kann. Und das 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Beginnend am Tag unserer Geburt (ggf. auch schon früher) bis an unser Lebensende.
Ist es also verwunderlich, dass wir einen sehr viel höheren Bedarf an Rückzug und Regeneration in möglichst reizarmen Umgebungen haben, um unsere Energiereserven wieder entsprechend auffüllen zu können? So darf es auch niemanden überraschen, dass wir nach einem anstrengenden Tag nicht mehr die Kraft haben, etwas zu unternehmen und Zeit mit unseren Liebsten zu verbringen. Auch wenn wir dies sehr gerne - wie jeder andere auch - tun würden.
Während eines Overloads
Wie es zu einem Overload kommt, haben wir bereits herausgefunden - aber was passiert während einer solchen völligen Überladung?
Ihr könnt es euch so vorstellen, als würde man bei Vollbesitz seiner geistigen Kräfte den Verstand verlieren. Man ist sich dabei völlig bewusst, dass man immer mehr die Kontrolle über seine kognitiven Fähigkeiten verliert. Jeder klare Gedanke wird zu harter Arbeit - sie rinnen durch unsere Finger, wie Wasser, das unaufhörlich seinem Flussbett folgt. Vermutlich ein Gefühl, wie es auch Menschen im Frühstadium einer Demenz erleben - selbstverständlich ohne der irreversiblen Auswirkungen, dafür aber regelmäßig und ein Leben lang.
Alle äußeren Eindrücke werden intensiver erlebt, wenn die Fähigkeit der kognitiven Kompensation versagt. Und sie versagt immer dann, wenn die Energiereserven aufgebraucht sind - also kein Puffer mehr vorhanden ist, die bewusst wahrgenommenen Eindrücke auf kognitiver Ebene zu verarbeiten.
Und genau dieser Puffer kognitiver Leistungsfähigkeit macht den Unterschied zwischen jedem einzelnen Autisten aus. So kann bei wenig vorhandenem Puffer die reizärmste Umwelt schon so erdrückend sein, dass selbst die einfachste verbale Kommunikation nicht möglich ist. Und dieser Puffer ist es auch, der mich hochfunktionalen Asperger-Autisten von einem non-verbalen frühkindlichen Autisten unterscheidet.
Sind meine Energiereserven aufgebraucht, bin ich also der gleiche Autist, wie auch der kleine frühkindliche Autist, der für sich in seiner eigenen Welt lebt, ohne Anschluss an seine nicht-autistische Umwelt.
Dabei oftmals genauso unfähig mit anderen Menschen zu kommunizieren, da durch die Fülle an Reizen eine Echtzeitkommunikation kaum noch möglich ist. Die Gedanken sind so chaotisch, dass es schwer ist, einen klaren Weg durch dieses Wirrwarr zu finden. Mutismus, also die Unfähigkeit zu sprechen, ist in diesen Zeiten also auch bei hochfunktionalen Autisten keine Seltenheit.
Gebt uns während dieser Phasen also bitte die nötige Zeit, Antworten formulieren zu können oder die Möglichkeit auf schriftliche Kommunikation zu wechseln. Diese ist für uns oft deutlich leichter zu bewerkstelligen, da man sich hier zum Einen die Zeit nehmen kann, die man braucht, um seine Gedanken zu sortieren und zum Anderen kann diese Form der Kommunikation möglichst reizarm und ohne sozialer Überforderung erfolgen.
Selbst zuhören ist in diesen Zeiten oftmals sehr schwer für uns. Es sind nicht nur die Informationen, die dabei verarbeitet werden müssen - es ist vor allem auch die nötige adäquate soziale Interaktion, zu der wir dann kaum noch fähig sind. Augenkontakt, das intensive Spüren der Gefühle des Anderen im eigenen Körper - all dies trägt zu einer weiteren Reizüberflutung bei. Bitte erachtet es also nicht als Unhöflichkeit oder Desinteresse, wenn wir euren Erzählungen nicht die Aufmerksamkeit schenken können, die sie verdient oder der Erzählung sogar aus dem Weg gehen müssen. Wir würden sie gerne hören - können es in diesem Moment nur einfach nicht.
Fällt der kognitive Filter und holt uns der eigene Autismus wieder einmal ein, werden Geräusche auf der Haut spürbar. Das mag seltsam klingen, aber ihr könnt es euch so vorstellen, als müsstet ihr euch durch eine gallertartige Masse bewegen. Eine Masse geschaffen aus Geräuschen. Die Fülle an Geräuschen in unserer Umgebung drückt in diesen Phasen auf uns, wie Tonnen von Gewicht - sie scheinen durch all unsere Körperöffnungen einzudringen und lassen uns kaum noch Luft zum Atmen, wenn sie überhand nehmen.
Selbst ein Überqueren der Straße ist dann ein Kraftakt. Überflutende Geräusche, blendende Lichter aus allen Richtungen und die Notwendigkeit, auf mögliche Gefahren reagieren zu müssen ist etwas, dass uns leicht an den Rand eines Zusammenbruchs führen kann.
Durch die ständige Überlastung des Gehirns wird auch unsere Merkfähigkeit stark beeinträchtigt. So vergessen wir in diesen Phasen oft wichtige Dinge oder auch das, was wir in diesen Zeiten erlebt haben. So ist das rettende Wochenende oft wie ein tatsächlicher Neuanfang und das, was in der vergangenen Woche geschah, ist in weite Ferne gerückt. Was bleibt ist nur eine Erinnerung, als wären Jahre seitdem vergangen.
Was tun in solchen Situationen?
Ihr als unser Umfeld könnt nur wenig aktive Hilfe leisten - allerdings ist das, was ihr passiv tun könnt umso wichtiger. Zeigt Verständnis und hört vor allem zu. Denn es gibt keine Musterlösung. Jede Situation ist so individuell, wie auch jeder Autist individuell ist. Wenn ihr uns aber unterstützt und uns den nötigen Freiraum gewährt, dann gebt ihr uns zumindest die Möglichkeit selbst herauszufinden, was wir gerade brauchen.
Fragt uns dabei aber bitte nicht ständig, was ihr für uns tun könnt oder was los ist. Das können wir nämlich oft selbst nicht beurteilen oder in diesen Momenten in Worte fassen. Wir gehen von uns aus auf euch zu, wenn wir es vermögen und ihr uns das Gefühl gebt, dass alles in Ordnung ist - es kann aber auch sein, dass wir Abstand und unsere Ruhe brauchen. Das ist allerdings keine Ablehnung eurer Person. Wir versuchen nur die überflutenden Reize so gut es geht zu minimieren, um wieder auf ein funktionales Niveau zu kommen.
Aber auch, wenn wir das Alleinsein sehr schätzen und auch sehr oft benötigen, kann man dennoch nicht generell sagen, dass wir während dieser Phasen alleine sein wollen. Ganz oft fühlen wir uns gerade in diesen Momenten einsam und von der Welt verlassen. Wir empfinden uns selbst als Anders und niemanden zugehörig. Glaubt mir - das ist kein schönes Gefühl. Denn dieses Gefühl verstärkt die negativen psychischen Auswirkungen eines Overloads umso mehr.
Es kann also durchaus sein, dass wir eure Nähe intensiv spüren wollen. Dabei kann es eine minutenlange feste Umarmung sein oder das Spüren der anderen Person neben sich - nur alles ganz ohne großer Worte.
Seid einfach da. Das hilft uns mehr als tausend Worte