Im vorangegangenen Teil dieser Reihe habt Ihr eine grobe Übersicht über drei Mechanismen erhalten, mit denen nach außen hin eine gewisse "Normalität" erreicht werden kann. Auch, wenn sie dort als letzte Methode aufgeführt wurde, erachte ich sie als die Wichtigste - die Aufteilung des Alltags in Funktionsbereiche.
Diese Lösung ist so simpel, wie effektiv – denn durch die Schaffung kleiner, überschaubarer Teilbereiche wird das „Funktionieren“ im gerade erforderlichen Bereich erleichtert. Denn dieser Teilbereich ist genau abgesteckt, die Rahmenbedingungen definiert – er stellt somit eine eigene Einheit des Alltags dar.
Mit dieser Einheit verknüpfen wir Personen, zu erledigende Aufgaben und festgelegte Routinen. Es kann auch sein, dass selbst grundlegende Dinge in einem Bereich gut funktionieren und im Anderen fast überhaupt nicht. Alle, die mich privat schon einmal versucht haben anzurufen, werden ein Lied davon singen können.
Meistens werden diese Teilbereiche anhand einer greifbaren Tätigkeit definiert. Durch die Koppelung, der damit in Verbindung stehenden Personen des Teilbereichs, kommt es aber auch sehr oft vor, dass bei einem Wegfall dieses Bereichs auch der Bezug und der Kontakt zu diesen Personen wegbricht.
Das ist keinesfalls böse gemeint oder dass man es nicht ernst mit diesen Personen gemeint hat. Es ist auch nicht so, dass diese Personen dann aus unserem Leben verschwinden und man sich keine Gedanken mehr über sie macht – ganz im Gegenteil. Für uns macht es nämlich keinen Unterschied, wie lange man nichts voneinander gehört hat – tritt die Person wieder in unserer Leben, ist es für uns wie zuvor. Als hätte es keine Unterbrechung gegeben.
Was uns daher anfangs etwas unsicher und distanziert wirken lässt und auch die Wiederaufnahme des Kontakts erschwert, ist keine emotionale Distanz zu euch, sondern die Tatsache, dass wir nicht wissen, wie wir auf euch zugehen sollen. Denn uns ist durchaus bewusst, dass die Kontaktpause wie eine Ablehnung eurer Person gewertet werden könnte – auch wenn es für uns keine solche ist.
Daher ein Rat für euch und eine Bitte an euch: wenn wir uns nicht melden, dann meldet euch bei uns. Wir sind dankbar dafür, wenn ihr euch in unserem Fokus haltet – wir können es einfach selbst nicht besser. Gebt uns das Gefühl, dass es in Ordnung ist, wenn wir uns gerade nicht melden können und dass ihr nicht böse auf uns seid. Das erleichtert den Kontakt ungemein.
Ich weiß, dieses Verhalten mag befremdlich wirken, aber ohne feste Bezugspunkte und die Aufteilung des Alltags, wäre es unmöglich, im Chaos des Alltags alles zu überblicken und gleichwertig zu betrachten.
Dies hängt wohl auch mit einem weiteren grundlegenden Problem von Autisten zusammen – wir sehen die Welt anders als Ihr. Für uns ist es unmöglich, die Welt als Ganzes zu erfassen – wir müssen sie uns aus ihren unzähligen Details, zu jedem Augenblick mühsam zusammenbauen. Ähnlich, wie bei einem Puzzle – nur, dass sich unser Puzzle ständig ändert und wir von neuem beginnen müssen.
Diese Teilbereiche können zum Beispiel wie folgt aussehen:
- Beruf + Kollegen
- Hobby A (z.B. Klettern)
- Hobby B (z.B. Billard)
- Freundesgruppe A
- Freund A
- Freund B
- Familienteil A
- Familienteil B
Natürlich können diese Bereiche auch noch feiner untergliedert werden (z.B. Aufteilung in Kollegengruppen). Das kommt ganz auf die individuelle Größe der möglichen Gruppen und auf die persönliche Beziehung zu den Personen an.
Meistens sind selbst die Personen aus diesen Bereichen ebenfalls strikt voneinander getrennt, da eine zu große Verflechtung der Bereiche die Stabilität und Struktur dieser Aufteilung auf Dauer beeinträchtigen würde – es kommt zu einer Überforderung. Das führt dazu, dass Freunde aus dem Bereich „Klettern“ in der Regel nicht mit den Freunden des Bereichs „Billard“ zusammenkommen werden und umgekehrt. Auch ein gemeinsames Treffen mit mehreren „Einzelfreunden“ stellt eine sehr große Herausforderung dar.
Wie tragen diese Funktionsbereiche nun zur äußeren Normalität bei?
Um diesen Effekt zu verdeutlichen, habe ich die Funktionsbereiche vereinfacht als Diagramm dargestellt. Die Person in der Mitte bin in diesem Fall ich. Durch die feste Bindung der Teilbereiche an bestimmte Tätigkeiten fällt es mir leichter, den Überblick über diese Teilbereiche zu behalten – sie sind sozusagen unvermeidbar.
Angenommen es steht nun die Tätigkeit „Klettern“ an. Dann rufe ich unbewusst die Struktur dieses Bereichs auf und weiß, was mich erwartet. Die Gesprächsthemen sind bekannt, die Abläufe routiniert und eingespielt.
Durch die Sicherheit, die diese eingespielten Handlungen schafft, reduziert sich der Kraftaufwand für die Kompensation erheblich. Zudem verringert die starke Begrenzung des Bereichs zusätzlich auch die Ereignisse, auf die ich spontan reagieren muss – also auch ein weiterer Faktor, der sich positiv auf die Funktionalität auswirkt.
Selbst, wenn ich in anderen Bereichen nicht mehr funktioniere, ist es mir durch diese Aufteilung dennoch möglich, eine gewisse Funktionalität in einzelnen Bereichen länger aufrechtzuerhalten.
Das Geheimnis der „scheinbaren Normalität“
Warum ich in den einzelnen Funktionsbereichen nun so „normal“ wirke ist ganz einfach: wenn Ihr Teil eines Bereichs seid, wisst ihr nicht, dass dieser nur einen kleinen Teil von mir ausmacht.
Dieser Teilbereich erscheint euch also, wie das gesamte Spektrum meiner Selbst. Dieser Effekt wird durch meine Offenheit zusätzlich noch verstärkt und ihr erhaltet den Eindruck meiner augenscheinlichen Normalität. Aber diese ist nur in diesem Teilbereich existent.
Zudem seht ihr mich nur im funktionierenden Zustand. Sobald ich nämlich die Funktionalität in einem Bereich nicht mehr aufrechterhalten kann, wird dieser vorübergehend abgestoßen – ich ziehe mich zurück.
Also alles nur Scharade?
Jein. Natürlich ist die Fassade der Normalität nur eine gut aufgebaute Illusion, aber was sich darin befindet ist echt. Ich gebe nicht vor, jemand anderes zu sein oder verstelle mich für andere. Ich bin der, der ich bin und was ich sage ist ehrlich und aufrichtig.
Aber aus Scham und Angst vor Zurückweisung seht Ihr eben nur den funktionierenden Teil von dem, was ich bin.
Manche würden das vielleicht als unehrlich bezeichnen – ich sehe es eher als Schutz vor der Schutzlosigkeit, die mit dem Nicht-Funktionieren einhergeht.
Während eines Shut- oder Meltdowns ist es schon schwer genug, mit sich selbst klar zu kommen – man fühlt sich hilflos und klein, kaum in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen – so als würde man den Verstand verlieren.
Dies vor einer anderen Person zuzulassen, erfordert sehr viel Vertrauen in diese Person. Vertrauen darauf, dass die Person die eigene Verletzlichkeit nicht ausnutzt und vor allem Vertrauen darin, dass die Person auch nach dem Zusammenbruch noch da ist.